Eine ganz kleine Geschichte des Yoga
Viele Grundannahmen des Yoga werden bereits im Vedānta (Skrt.: veda = heiliges Wissen; ānta = Ende) formuliert, der dem religiösen Yoga zugeordnet wird und das Ende oder die Essenz der Veden bezeichnet, zu denen auch die Upanishaden gehören. Auch wenn präzise Zeitangaben in der indischen Geschichte nicht immer möglich sind, ist davon auszugehen, dass die vedische Zeit auf ca. 1000 v. Chr. zu datieren ist. Den Upaniṣaden gedanklich nahe steht auch die Bhagavad Gītā (Skrt.: gītā = Lied, Gedicht; bhagavan = Herr, Gott), die als Teil des ca. 80.000 - 100.000 Verse umfassenden Epos Mahābhārata ca. 500 bis 200 v. Chr. entstanden ist.
Neben dem religiösen Yoga bildeten sich auch sechs parallele philosophisch-orthodoxe Schulen des Hinduismus heraus, die als darśana (Skrt.: darśana = Sehen, Schau) bezeichnet werden. Yoga stellt neben Nyāya, Vaiśeṣika, Sāṃkhya, Mīmāṃsā und Vedānta (zu diesem Zeitpunkt im Sinne des Advaita Vedānta nach Śaṅkara) eine dieser klassisch-philosophischen Schulen dar, die insbesondere in den um Chr. Geburt entstandenen Yoga-Sūtren des Pataṅjali ihren Ausdruck findet.
Ungefähr 400 bis 1000 n. Chr. entwickelte sich der Tantrismus (Skrt.: tantra = Gewebe, System), der im Unterschied zu den zuvor genannten orthodoxen und asketischen Ansätzen nicht versuchte, Körper und Welt zu überwinden, sondern beide auf dem Yoga-Weg einzubeziehen. Aus ihm ging schließlich auch die heute häufig praktizierte Form des Haṯha-Yoga hervor.
Die Yoga-Sūtren (Skrt.: sūtra – Leitfaden) des Pataṅjali, die vermutlich im Zeitraum zwischen dem 2. Jh. v. Chr. sowie dem 4. Jh. n. Chr. entstanden sind, gelten heute als Grundlagentexte des Yoga. In ihnen werden erstmalig systematisch die zum damaligen Zeitpunkt existierenden philosophischen Lehren zusammengefasst. Das Ziel des Yoga besteht nach Pataṅjali darin, die Aktivitäten des Geistes zur Ruhe zu bringen. Erreicht werden soll dieser als „citta-vṛtti-nirodhah“ bezeichnete Zustand mit Hilfe eines achtgliedrigen Yoga-Wegs, der bei Pataṅjali als Aṣṭāṅga-Yoga (Skrt.: aṣ = 8; ṭāṅga = Pfad) beschrieben wird (und nicht zu verwechseln ist mit dem dynamisch praktizierten Aṣṭāṅga-Yoga nach Krishnamacharya).
Die Yoga-Sūtren des Pataṅjali bilden auch heute noch eine der Grundlagen des Yoga. Auch wenn Yoga im Westen häufig auf die Körperhaltungen (āsanas) reduziert wird, handelt es sich doch um ein ganzheitliches System, das erst durch das Einbeziehen aller acht Schritte vollständig erfahrbar wird.
Das von Pataṅjali beschriebene Ziel des Yoga, nämlich die Aktivitäten des Geistes zur Ruhe kommen zu lassen, besitzt auch heute noch seine Gültigkeit. Ergänzend hierzu werden aus dem Haṯha-Yoga sowie dem Vinyāsa Flow die Idee übernommen, die unterschiedlichen Energien des Körpers ins Fließen zu bringen, zu vereinen und auszugleichen.
Der in den Yoga-Sūtren beschriebene achtstufige Yogaweg stellt eine ausführliche Anleitung zur Erreichung des Yoga-Ziels dar. In Anlehnung an den Haṯha-Yoga wird dabei der Körper als Werkzeug mit einbezogen, was sich u.a. in einer Vielzahl von Körperhaltungen (āsanas) widerspiegelt. Dabei sollten jedoch die anderen Stufen des Yogaweges nicht aus den Augen verloren werden. Erst durch die Schulung des Geistes sowie die Integration von Körper, Geist und Atem wird Yoga seine voll Wirkung entfalten.
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